Miserable Monday Update – Das Problem mit der Durchhörbarkeit


Das sollte heute eigentlich ein ganz easy Freitag werden. Zwei-drei Dinge fertigmachen, Sendung rausschicken, Büro saugen, Urlaub schon in Sicht, dies das. Nichts davon hab ich geschafft. Dafür saß ich den ganzen Tag am Handy und habe aufgeregte Insta-Stories gebastelt. Was ist passiert?

Gestern wurde mir beim abendlichen Doomscrolling ein Satz in die Timeline gespült, der mich mehr getroffen hat, als mir lieb ist.

„Mit musikalischer Vielfalt stellen wir niemanden richtig zufrieden“

Gesagt hat das Mira Seidel, Programmchefin der öffentlich-rechtlichen Jugendwelle DASDING, im Interview mit DWDL.de über die künftige Ausrichtung des Tagesprogramms des Senders. Soweit so unglücklich formuliert.

Im Artikel führt sie dann aus, wie sich das Ganze anhören soll: „Wir werden […] künftig tagsüber die Spitzen und Kanten aus der Musik herausnehmen. Hier wollen wir mehr Mainstream und dadurch eine höhere Durchhörbarkeit erreichen.“ Durchhörbarkeit – das neue Anliegen des jungen Angebots. Uff.

Um direkt jegliche Zweifel aus dem Weg zu räumen: Ich bin absoluter ÖRR-Superfan. Ich arbeite seit 10 Jahren an verschiedenen Stellen des ÖRR und würde mich immer wieder schützend vor ihn werfen. Wahrscheinlich hätte ich auch das Parkett im Büro von Patricia Schlesinger nur mit Socken betreten. In der Auseinandersetzung mit dem DWDL-Artikel von Mira Seidel geht es mir außerdem vorrangig um das Thema Musik. Ist ja auch ein Musikblog hier. Na ja und so eine misslungene Headline schmerzt dann eben besonders.

Was genau stört mich – 4 Punkte in unsortierter Reihenfolge:

Punkt 1 – Vielfalt: Immer wenn Vielfalt eingeschränkt oder zurückgestellt wird, bewegen wir uns in die falsche Richtung. Davon bin ich überzeugt. Das trifft auf die Musikauswahl eines Radiosenders genauso wie auf alle anderen Bereiche gesellschaftlichen Zusammenlebens zu.

Fairerweise sei hier gesagt, dass die Vielfalt bei DASDING in die Abendstunden verlegt werden soll. Sendungen wie „DASDING Play“ bekommen außerdem mehr Sendezeit. Wie vielfältig man die Playlist von „DASDING Play“ findet, das muss jede*r für sich selbst entscheiden. Es bleibt aber dabei: Wer abends kein Radio hört, bekommt demzufolge auch nichts Neues mit und trainiert seine/ihre eigene Durchhörfähigkeit mit den immer selben Songs.

Punkt 2 – Relevanz: Welche Relevanz hat ein öffentlich-rechtlicher Radiosender, der sich weder von anderen Sendern der Gruppe (Zitat Mira Seidel: „Es ist nicht schlimm, wenn wir uns mit SWR3 überschneiden.“), noch von privaten Sendern unterscheidet? Beispiel Mitteldeutschland: Der für mich wesentliche Unterschied zwischen MDR Jump und MDR Sputnik ist, dass mich der eine Sender mit „Sie“, der andere mit „Du“ anspricht. Ansonsten finde ich das Angebot (und ich weiß hier mache ich mir jetzt evtl. keine Freunde) austauschbar, gleich, you name it.

Daraus entwickelt sich ja aber noch eine ganz andere Problematik. Die Sender (privat wie öffentlich-rechtlich) kämpfen mit der ungefähr gleichen Musik, den ungefähr gleichen Ansprechhaltungen und Inhalten (mal hipper, mal älter, mal schneller, mal noch schneller) letztlich alle um dieselben XXXX Hörer*innen. Diese wiederum werden ja aber zusätzlich noch von digitalen Playern wie Spotify und Co. umschmeichelt. Sollte man an der Stelle nicht lieber auf mehr Vielfalt, mehr Unterschied, mehr Kanten und mehr „guck mal was ich entdeckt habe, ich bin mir sicher, das fetzt dir auch“ setzen, um den Hörer*innen-Kreis zu vergrößern? Ich meine, wenn ich beim ausverkauften Noga Erez Konzert im UT Connewitz in Leipzig stehe, schaue ich in 400 Gesichter, die musikalisch irgendwie alle nicht so richtig in einem ARD-Radio abgebildet werden. Anekdotische Evidenz, klar, also korrigiert mich, wenn ich hier falsch liege. Aber wir werden im Grunde exkludiert und suchen unser Radioglück bei Community Radios wie Sphere Radio, RadioT, Radio Blau, bei kleinen Privaten wie Flux.FM oder Detektor.FM, oder gar im Ausland bei BBC6Music oder FM4. Geht auch, na klar. Aber wie cool wäre es, wenn auch wir einen festen Platz im öffentlich-rechtlichen Radiokarussell hätten?

Punkt 3 – Corona: Schon wieder, immer noch. Wie es um die Live-Branche (abseits von Rammstein und Sarah Connor) steht, muss ich wahrscheinlich nicht noch mal erklären. Das hat der Kollege Schütze HIER schon ausführlich gemacht. In einer Zeit, in der es der Branche so schlecht geht wie noch nie, ist der Satz da oben ein Schlag ins Gesicht für alle, die irgendwie versuchen, den Laden am Laufen zu halten. Alle, die trotz massiv prekärer Lebenssituationen weiter Platten rausbringen oder verlegen, Konzerte veranstalten, Festivals buchen, Texte schreiben, T-Shirts verkaufen, Bühnen aufbauen, Musik besprechen etc pp. Der ÖRR könnte hier eingreifen und relativ einfach helfen. Mehr Musik von kleineren Bands, Künstler*innen, Labels, Verlagen. Das bringt GEMA und GVL Kohle in die Taschen und schafft zusätzlich eine unbedingt notwendige Plattform, die vielleicht sogar Ticketverkäufe anschiebt. Es wäre so einfach umsetzbar. Von heute auf morgen.

Man muss sich an diesem Punkt auch die Frage stellen, wie wir mit dem Kulturgut Musik in unserem Land umgehen. Mehr Mainstream bedeutet mehr Charts und damit mehr tanzen, leben, lachen, Welt. Wollen wir das wirklich? Konservenmusik, die am Ende nur dafür da ist, um irgendwie schnell unter die Leute gebracht zu werden. Tut nicht weh, stört nicht (na ja) und hab ich morgen eh wieder vergessen. Ich finde das zu dünn, vor allem mit dem Wissen, wie viel gutes Zeug da draußen unterwegs ist, was zweifelsfrei genauso gut in der „DASDING Play“ Playlist stattfinden könnte. Warum denn auch nicht? Sicherlich gibt es bei DLF Nova (habt ihr das Problem mit der GVL eigentlich schon geklärt?) und DLF Kultur Fenster, in denen Musik von Independent Künstler*innen auftaucht. Aber ob das reicht, um wirklich einen Unterschied zu machen und die Szene zu stärken, bezweifle ich.

Punkt 4 – Mehr Mainstream = Mehr Männer: Ein wichtiger Punkt, den MusicSWomen heute morgen direkt angesprochen haben. Mehr Mainstream bedeutet automatisch weniger FLINTA* Artists. Aktuelle Zahlen zu den Charts wird die MaLisa Stiftung auf dem diesjährigen Reeperbahn Festival vorstellen. Zitat MusicSWomen: „Da sieht’s düster aus.“ Alin Coen hat sich 2020 für das FemMit Magazin die Mühe gemacht und Playlisten von Radios ausgezählt. Zitat: „An einem Tag war das Verhältnis 108 Stücke mit Männerstimmen zu 34 Stücken mit Frauenstimmen und 18 mit gemischten Stimmen.“ Wisster bescheid …

Wenn wir jetzt ein cooles Meme hätten!

Das sieht alles nicht gut aus. Aber glücklicherweise hat der Twitter-Account von DASDING die Lage erkannt und direkt nach Veröffentlichung des Artikels die Stimmung runtergekocht. Uff, uff…

Kleiner Spoiler: Es wird gar nicht so schlimm, wie ihr erwartet… 😬 Überzeugt euch selbst, indem ihr hört 🎧 und nicht nur lest 😊

— DASDING (@DASDING) August 11, 2022

Grüße gehen an der Stelle raus an den Insta-Kanal ÖR-MEMES.

Und jetzt?

Es ist nicht das erste Mal, dass ich völlig impulsiv Kritik am ARD-Radio auf Instagram raus poltere. Was dieses Mal anders ist: Mira Seidel hat sich bei mir gemeldet und wir haben telefoniert. Das war überraschend und gut.

Mira Seidel brennt, genau wie ich, für das lineare Radio und seine Zukunft. Da sind wir uns tatsächlich einig. Wofür Mira Seidel nicht ganz so sehr brennt, ist Musik. Und je länger wir sprechen, desto mehr denke ich, dass sie damit eventuell näher an den Hörer*innen von DASDING, Jump, Sputnik usw. dran ist als ich. Ich will die Moves keineswegs verteidigen. Aber vielleicht muss DASDING auch so sein, wie DASDING eben ist. Vielleicht ist es so, dass es außerhalb unserer coolen, nerdy Musikbubble tatsächlich einfach zu wenige interessiert? Vielleicht reicht den meisten ein „Dudelradio“, was nicht weiter auffällt oder stört, zweimal die Stunde sagt, ob die Sonne scheint oder nicht, und ansonsten eine gute Zeit vermittelt. Fair enough, kann schon sein. Aber: Die Fragen, wie man mit lokalen bzw. nationalen Künstler*innen umgeht und ob es noch cool ist (ist es nicht), überwiegend Mainstream-Männer zu spielen, müssen sich auch diese Sender stellen. Gerade weil sie Teil des öffentlich-rechtlichen Systems sind. Wie das mit dem angestrebten Mainstream-Programm dann bei DASDING aussieht, wird sich zeigen. (MusicSWomen probably keeping an eye on it.)

Und: Was ist mit uns? Die, die wir kein Zuhause im öffentlich-rechtlichen Radio finden. Sei es, weil sie unsere Lieblingsmusik nicht spielen, weil sie Musik spielen, die wir nicht anspruchsvoll oder langweilig finden, weil sie Musik deiner Band nicht spielen oder ich als Musikjournalist nicht für sie arbeiten kann, weil sie meine Themen nicht platzieren. Ich glaube, für uns braucht es etwas anderes, etwas Neues. Mit der WoMen-Power und den Ressourcen des ÖRR und unserem breiten Geschmack. Mit weniger starrem Blick auf Altersgruppen und Genre, mit angenehmer Ansprechhaltung und ohne die öffentlich-rechtliche Angst, etwas falsch zu machen. Autor*innen-Radio, was, und auch da bin ich mir sicher, auch Leute abholt, die bisher DASDING gehört haben. Let’s call it Deutschlandfunk Musik!


Hast du neue Musik entdeckt oder etwas gelernt? Dann tell your friends und wenn du kannst, unterstütze mich doch via Steady jeden Monat mit einem kleinen Betrag (ab 3€) oder per Paypal mit einer Einmalzahlung.
Der Miserable Monday lebt von Mundpropaganda und deinem Support. Danke! ♥