91 – Charlotte Brandi

Charlotte Brandi Official Press Pic

Ein später Beitrag für die Liste „beste Releases 2020“. Aber lieber spät, als gar nicht. Charlotte Brandi, bekannt vor allem von der Band Me And My Drummer, veröffentlichte am 4.12. ihre aktuelle EP „An das Angstland“ auf listenrecords. Die erste EP, die sie komplett auf deutsch eingesungen hat.

Deutsche Texte – immer irgendwie schwieriger, als auf Englisch zu singen. Deutsch hört sich nicht einfach so weg. Für Charlotte Brandi alles kein Problem. Im Corona-Lockdown findet sie paradoxerweise erstmals in einem lahmgelegten Berlin die Ruhe, sich intensiv dem Schreiben von deutschen Texten zu widmen. Dabei kann sie auf jahrelanges Dichten von Lyrik und eine gewisse Affinität zu deutschem Rap zurückgreifen.

Wie ein unbemerkt gereifter Apfel fällt Brandi also die Entscheidung, einige ihrer Gedichte zu vertonen, nun in den Schoß. „Das macht unheimlichen Spaß, weil es eine erstaunliche Kraft hat, auf seiner Muttersprache zu texten“, beschreibt Brandi das Öffnen der Tür zu diesem Neuland.

Herausgekommen sind vier Songs (inklusive Feature von Dirk von Lowtzow), die irgendwo zwischen Jazz, Folk und Beat-Schlager der 70er Jahre mäandern. Am Anfang zuckersüß, gewinnen sie mit jedem Hören an Tiefe. Es geht um die großen Fragen. Was ist der Mensch? Worin ist der gut?“. Vier Songs, die ich einen Abend lang in Dauerschleife gehört habe, nur um sie am nächsten Morgen direkt nochmal anzumachen.

„An das Angstland“ ist eine fantastische Platte in einem gebrauchten Jahr. Zum Glück haben wir die Musik!

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DIE LISTE 

Die traurigsten Lieblingssongs von Charlotte Brandi.

Sinéad O’Connor - All Apologies

Sinéad interpretiert Nirvana, was könnte es traurigeres und schöneres geben? Ich liebe es, wie sie die Töne leicht verändert und was das mit der Ausstrahlung des gesamten Liedes macht. Ich empfehle einen Vergleich mit dem Original!

Jane Birkin - Harvest Moon

Und weil’s so schön war, direkt noch ein Cover. Jane Birkin singt Harvest Moon von Neil Young wie vom Weltraum aus mit einem letzten Blick auf unsere endlich komplett zerstörte Erde, wie ein zarter Abgesang auf alles, was schön war an uns Menschen, die Liebe, die Sommernächte, die versunken spielenden Bands, die bunten Girlanden, die leuchtenden Laternen, das sich wiegen auf mondscheinbeschienenen Tanzflächen...

Dean Blunt – 100

Mr. „Blunt“ war meine Entdeckung 2015. Was ich hier höre, ist ein eigentlich harter Typ aus London, der sich aus einer hoffnungslosen Verliebtheit in die mysteriöse Inga Copeland heraus traut, seinen wahren Gefühlen ihren Lauf zu lassen und entgegen seiner Gewohnheit ein wirklich trauriges Lied über Einsamkeit singt.

Micachu And The Shapes - Fall

 Mica Levi ist ein Genie. Jeder müsste sie kennen aber sie ist dermaßen lichtscheu, dass sich der totale Ruhm nicht einstellt, trotz Oscar-Nominierungen und großartiger Veröffentlichungen seit weit über zehn Jahren. Ihre Fähigkeit, großartige Melodien zu finden, die sie einmal quer über einen Hinterhof kickt, bis sie schmutzüberzogen auf ihrem Schoß landen und von Levi mit letztem Schliff zu kleinen Meisterwerken veredelt werden, verblüfft und bezaubert mich immer wieder.

Chavela Vargas – Paloma Negra

 Achtung! Beim Hören wird man Zeuge einer unglaublichen Eruption, Chavelas Not, ihre Nähe und ihr vollendetes Handwerk, all das kann abschrecken oder ultimativ gefangen nehmen – dieses Lied ist nichts für Schwächlinge!

Laura Marling – Take The Night Off

 Laura hat sich irgendwann über das Prinzip der musikalischen Originalität erhoben und ihre Musik eher zu einem körperlichen Organ erklärt, welches sie zu reinigen hat, nicht andere zu beeindrucken. Sie muss so viel loswerden, dass sich im Grunde jeder Song von ihr lohnt, auch, weil man hier ihre Entwicklung von einem jungen, schüchternen Mädchen zu der Joni Mitchell unserer Zeit verfolgen kann.

Hand Habits – yr heart

 Der fast am Schrillen grenzende Mix, die lerhbuchmäßige Komposition, die leicht schiefen Töne in der Gesangslinie – all das schmälert dieses große Lied kein bisschen, eher noch trägt es dazu bei, dass man wie gebannt zuhören muss und, falls man grade einen melancholischen Tag haben sollte, empfehle ich direkt mit einem Taschentuch im Anschlag zu hören.

Angel Olsen – Chance

 Hier wurde ein Song geschrieben und produziert, der es fertig bringt, gleichzeitig so verzweifelt zu klingen, wie Dusty Springfield, so klassisch pop-bombastisch wie eine Band von Phil Spector aber dennoch so seltsam, frisch und modern als wäre Gwen Stefanie endgültig im Gin baden gegangen... Chapeau, Angel Olsen!

Jessica Pratt –This Time Around

Hier meint man, eine vom Leben schwer gezeichnete, jedoch noch immer hübsche und elegante Barbie-Puppe säße in einem Fender-Röhrenamp und sänge uns das traurigste Schlaflied der Welt. I love it.

Theodor Shitstorm – Sie Werden Dich Lieben

 Keine Angst vor Feelings! Verunsicherung von außen kann man natürlich auch mit Verunsicherung von innen begegnen. Niemand im deutschsprachigen Raum macht das grade so ehrlich und glas-fragil wie Desiree Kleukens. Sträflich unterschätztes Projekt.